Colerianischer Adventskalender

21.12.2020

Artouste Goeland verschränkte die Hände hinter dem Rücken und starrte mit zusammengezogenen Brauen durch das große Sichtfenster seines Büros. Hier, hoch oben im Orbit von Coleria Prime, waren die größten Raumschiffwerften des Planeten positioniert und eine davon, genannt Werft CN-0197, war sein Reich. Der künstliche Mond war mit seinem Durchmesser von fast 25 Kilometern und einer ständigen Belegschaft von gut 85000 Mann, plus knapp der gleichen Anzahl an Robotern und KIs der verschiedensten Arten, tatsächlich größer als mancher Planetoid des colerianischen Systems. Als Direktor dieser kleinen Welt war ihm der Ausblick auf die Dockanlagen vertraut wie das Gesicht eines alten Freundes. Auf der großen Helling der Werft, direkt unterhalb seines Aussichtsfensters entstand ein neues imperiales Großkampfschiff, ein Superschlachtkreuzer der Ageno II-Klasse. Aus der luftigen Höhe des Verwaltungsgebäudes konnte Goeland die Arbeiter natürlich nicht erkennen, ihr Wirken hingegen schon: Tag für Tag, Woche für Woche war die mächtige Form des Schiffes immer größer, immer detaillierter herangewachsen. Es war wie eine langsame Geburt. Noch 96 Tage, dann würde das Schiff planmäßig getauft werden und an die Ausrüstungskais der Raummarine verlegt. Die colerianische Marine war - natürlich - der größte Auftraggeber. Mochte die Werft auch privaten Eignergruppen gehören, so hatte die Marine, wie fast überall im öffentlichen Leben Colerias, ein Wörtchen mitzureden.
Und gerade das bekam Artouste Goeland jetzt zu spüren. Sein Blick hätte eigentlich dem schmächtigen Adjutanten gelten sollen, der gerade auf halbem Weg zwischen dem Schreibtisch des Werftdirektors und der Bürotür stehengeblieben war, als gäbe es dort Treibsand. Goeland war ein Patriarch. Es missfiel ihm zutiefst, sich von so einem Buben etwas diktieren zu lassen, und so ließ er seinen ersten Zorn lieber beim Blick ins weite All und auf sein Werk dort draußen verrauchen.

»S-Sir? Sie müssen verstehen, ich ...«, begann dieser erneut. Diesmal wurde ihm Gehör geschenkt.
»ICH MUSS ÜBERHAUPT NICHTS!«, donnerte Artouste Goeland zurück, als er sich überraschend umdrehte.
Er mochte die sechzig Jahre fast erreicht haben, aber mit seiner hünenhaften Gestalt, dem intensiv roten Vollbart und den stechend grünen Augen in einem kühnen, kantigen Gesicht wirkte er wie ein imposantes Gebirge, dessen schierer Anblick einen Betrachter ehrfürchtig verstummen lassen konnte.

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