Kurzgeschichte

Etwas war anders

Etwas war anders. Ich wurde - wie üblich - am frühen Morgen vom gewohnten Summen geweckt, Zeit zum Aufstehen. Und dennoch: Etwas war ganz anders als sonst. Ein mulmiges Gefühl beschlich mich. Es war dasselbe Gefühl, das einen beschlich, wenn ein schwerer Sturm oder ein apokalyptischer Platzregen bevorstand. Noch bevor man die unmittelbaren Vorzeichen sich sammeln sah, hatte man dieses seltsame Gefühl, dass bald etwas passieren würde. Aber was sollte denn hier drinnen passieren? Ich sah mich um. Von hier hatte ich keinen Ausblick auf die Sonne, aber deren stiller und freundlicher Schein schimmerte um die Ecke, sie war also noch da. Albern, so ein Gedanke! Wie töricht. Warum sollte auch die Sonne verschwinden, sie war schließlich immer da und würde es auch immer bleiben. Nein, dieses Gefühl musste von woanders kommen. Ich rappelte mich benommen auf. Meine Beine waren so schwer, als hätten sie bereits diese Stimmung in sich absorbiert und wären in dieser Nacht rapide gealtert. Warm war es. Warm, aber nicht zu warm. Und vor allem: Nicht zu kalt. Es konnte also auch kein vorzeitiger Kälteeinbruch sein, für den man Maßnahmen hätte treffen müssen. Außerdem war es Hochsommer, gerade kürzlich war doch erst Sonnenwende gewesen! Maßnahmen. Wenn man nur wüsste, wogegen!

 

 

 

Ich beschloss, hinauszugehen und die anderen um Rat zu fragen. Wer weiß, vielleicht hatten auch sie dieses sonderbare Gefühl. Wie sagt man doch so schön? Geteiltes Leid ist halbes Leid. Und wenn nicht: Umso besser! Schon nach wenigen unbeholfenen Schritten traf ich einige der anderen, aber es beruhigte mich nicht. Ein Freund, mit dem ich nach getaner Pflicht stets gerne etwas Zeit verbrachte, schien meinen Blick zu meiden, ganz so, als würde er das ungute Gefühl teilen und hätte Angst, es durch den Blickkontakt zu verstärken. Also doch! Etwas war los! Ich entschied mich jedoch, ihn nicht weiter zu behelligen, denn mit diesem Hasenfuß würde ich nicht über so etwas wie unbestimmte Ängste reden können. Als hätte er meine Gedanken erraten, verzog er sich in eine Ecke, als wollte er die unruhigen Zeiten dort verschlafen.

 

 

 

An der nächsten Ecke traf ich ein paar Arbeiterinnen. Urplötzlich mischte sich unter meinen Wissensdurst auch der eher profane Wunsch nach etwas Essbarem. Mein Magen rumorte und ich musste feststellen, dass ich vor lauter Gedanken komplett das Frühstück hatte ausfallen lassen. So weit war es mit mir also schon gekommen! Da ich immer einen gewissen Schlag beim weiblichen Geschlecht hatte, beschloss ich, meinen ganzen Charme in die Waagschale zu werfen und die Damen um etwas Wegzehrung zu bitten. Ich stellte mich gerade in Positur vor ihnen auf, da geschah wiederum etwas ganz und gar Unglaubliches: Allesamt drehten sie sich von mir weg! Na, so eine Unverschämtheit! Dieses Weibsvolk brauchte ich schon mal gar nicht nach drohenden Weltuntergängen zu fragen, die waren ja nicht einmal an einer gepflegten Konversation und geschwisterlichem Teilen interessiert. Und das, obwohl sie mit letzter Sicherheit schon sehr früh unterwegs gewesen sein mussten und ganz bestimmt etwas mitbekommen hätten, wäre da etwas gewesen. Missgelaunt trottete ich also weiter. Irgendwie würde ich es schon allein herausfinden, und wenn es mich den ganzen Tag kosten würde!

 

 

 

Keine fünf Minuten waren vergangen, da blieb ich in einem größeren Gedränge stecken. Wie üblich, wimmelte hier alles durcheinander, aber auch hier meinte ich, eine schier greifbare Stimmung zu bemerken. Etwas war anders. Ich musste mir niemanden gezielt heraussuchen, um zu erkennen, dass diese Stimmung real war. Dass mein ungutes Vorgefühl keine Fantasie, ausgelöst durch einen leeren Magen, war. Allein schon die Bewegungen vieler verrieten, dass da etwas im Busch war. Etwas Unangenehmes, das war mir jetzt klar. Ich beschloss, mich äußerlich dumm zu stellen, unbeteiligt zu wirken. Wenn ich in dieser Menge unvorsichtig vorging, würde ich womöglich eine Massenpanik auslösen, und was das bedeuten konnte, musste ich wohl niemandem erklären. Nichts war schlimmer als ein Volk, das vollkommen grundlos in Panik versetzt wurde, denn Panik steckt an. Panik schadet allen. Panik war schlimmer als eine Infektion! Apropos Infektion: Kurz schoss mir der Gedanke durch den Kopf, dass ich mit dem Frühstück auch meine tägliche Portion Propolis vergessen hatte, aber diese Nichtigkeiten würden mich jetzt nicht mehr hindern. Ich würde, nein, ich musste subtil vorgehen, das war ich mir und den anderen schuldig.

 

 

 

Während ich noch in Gedanken verweilte, wie ich meine Ermittlungen gestalten würde, wurde ich unsanft angerempelt. Ich sah auf. Einige andere aus der Menge waren dicht an mich herangetreten, ich konnte auf die Schnelle gar nicht zählen, wie viele es waren, und bedrängten mich. Ich wollte protestieren, doch ich wurde nur noch heftiger geschubst. Das war kein Versehen, kein Zusammenprall inmitten einer unorganisierten Menge, das war ein Affront! Angst überkam mich. War das bereits der Grund meines unguten Gefühls?

 

 

 

Junge, heute wirst du von Chaoten angerempelt!

 

 

 

Nein, etwas in mir sagte, dass es dabei nicht bleiben würde. Noch bevor ich etwas unternehmen konnte, waren die anderen über mir, man hätte meinen können, sie fielen über mich her! Die Angst wuchs in dem Maße, wie meine Ratlosigkeit zunahm. Nein, das konnte ja schlecht sein, ich hatte ja keinen Anlass gegeben. Sicher war das so ein Massenphänomen, von dem manchmal gesprochen wurde. Ich war zur falschen Zeit am falschen Ort. Ich rollte also herum, versuchte, mit den Beinen etwas Abstand zu erzwingen, damit ich nicht erdrückt würde. Wer wusste schon, wie viele da noch folgen würden, gleichgültig, wer da schon am Boden lag! Da zwickte es plötzlich heftig in einem Bein, man hatte mich gebissen! Gebissen, man stelle sich das vor! Wo waren wir denn hier? Da begriff ich erst, dass es kein dummer Zufall war. Da begriff ich erst, dass dieses Verhalten Aggression war und dass diese Aggression mir galt!

 

 

 

Hastig wand ich mich heraus, durchaus dankbar, dass ich nicht ganz schmächtig und kraftlos gebaut war. Jemand anderen hätte dieser Mob vielleicht übel zugerichtet. Gleichwohl schmerzte die Bissstelle im Bein unangenehm. Kaum war ich wieder auf den Beinen, wurde ich weiter bedrängt. Auf einen offenen Kampf konnte und wollte ich es nicht ankommen lassen. Zum einen waren die anderen in der Überzahl und hatten sicherlich noch weitere Sympathisanten in der Menge, zum anderen empfand ich es als unangemessen, zu raufen. Schließlich hatte ich schon mit der Königin verkehrt und stand über diesen profanen Rangeleien in der Öffentlichkeit.

 

 

 

Ich bereute diesen Edelmut jedoch sogleich, als ich mit dem Rücken zu einer Sackgasse stand und die Angreifer - ich begann jetzt, dieses Pack wirklich als solche zu titulieren - noch immer dicht vor mir waren. Was wollten sie denn nur? Ich hatte doch wirklich rein gar nichts getan! Ich sah aus wie jeder andere hier und hatte mich bewegt wie jeder andere! Die Angreifer waren jedoch anderer Meinung und es schien keinen Sinn zu haben, sie in ein Streitgespräch darüber zu verwickeln. Sie schienen entschlossen, fest entschlossen. Aber wozu? Ich blickte in finstere Augen. Das Wort Mordlust schob ich hastig beiseite, denn mein Herz pumpte ohnehin schon heftig genug. Was tun? Um Hilfe bitten? Ich löste mich aus dem engen Gesichtsfeld meiner Angst und sah mich um. In der Peripherie entdeckte ich einige andere, sogar gestandene Kerle, die ebenfalls von ganzen Gruppen bedrängt wurden, bis sie schließlich in einem wüst raufenden Knäuel aus Körpern untergingen. Die Angst wuchs zur Panik unbeschreiblichen Ausmaßes an. Ich würde hier keine Hilfe bekommen! Was auch immer sie vorhatten, sie würden es mir antun! Ich versuchte es mit einer deeskalierenden Körperhaltung, aber auch die hatte keine Wirkung. Im Gegenteil. Es schien, als hätte ich das Signal zum Angriff geblasen, denn in diesem Moment fielen sie endgültig über mich her. Die Welt begann sich zu drehen, der schwache Sonnenschimmer wurde durch die zahlreichen Leiber über mir ausgeblendet. Verzweifelt versuchte ich, die Angreifer von mir wegzuschieben, denn ich war ja unbewaffnet. So ein unfairer Kampf! Mit einem Mal blitzte heißer Schmerz in mir auf, von meinem Unterleib aus breitete sich ein sengendes Feuer in mir aus. Man hatte auf mich eingestochen!

 

 

 

Fassungslos blieb ich für einen Moment liegen, bis die Welt wieder Konturen gewann. Die Wunde schmerzte nicht nur am Einstich, sondern es kribbelte auch und fühlte sich zugleich eiskalt an. Gift! Das war Gift! Ich hatte schon davon gehört. Man munkelte des Öfteren davon, dass die weibliche Heimtücke sich nicht mit bloßem Zustechen begnügte, sondern zu Gift griff. Oh, hätte ich armer Tor doch nur mehr auf dieses Gemunkel gegeben! Aber Jammern half jetzt nichts. Immerhin brachte mich dieser Treffer zur Besinnung und er schien mir sogar enorme Kräfte zu verleihen. Ich musste hier weg! Mit einem verzweifelten Aufbäumen und dem Einsatz meiner Körpergröße stieß ich die Angreifer beiseite und raffte mich auf. Ich musste hier weg!

 

 

 

Doch es war nicht so einfach, wie es mir mein gehetzter Verstand vorgeschlagen hatte. Das Gift tat seine Wirkung, ich humpelte und hinkte, meine Sinne schwanden. Allein von dem unbändigen Wunsch zu entkommen getrieben, trat ich die Flucht an, die Angreifer sicher dicht hinter mir. Ich wusste, wohin ich mich wenden musste: Zum großen Ausgang, der direkt ins freie Feld führte. Dort verlor sich alles, dort gab es Verstecke, dort konnte ich mich von dem Gift erholen, und überlegen, welcher Wahnsinn hier tobte und warum. Ich wusste, dass es mir schwerfallen würde. Selbst wenn ich hier heil herauskäme, was hätte ich denn da zu verstehen gehabt? Ich hatte nie etwas Verbotenes getan, mich immer für die Gemeinschaft eingesetzt, mein Volk, ich war ein Diener der Königin. Warum sollte man etwas gegen mich - und offensichtlich auch einige anderer meiner Leidensgenossen - haben? Während ich mich noch voller Gedanken so eilig wie nur möglich in Richtung des hell erleuchteten Ausgangs schleppte, trafen mich weitere Stiche. Die Waffen waren gewählt, aber ich hatte keine. Ich sackte zusammen und es war nur meinem unbändigen Überlebenswillen gedankt, dass ich nicht einfach liegenblieb und es dem mordlustigen Mob noch leichter gemacht hätte.

 

 

 

Da! Endlich! Ich hatte es geschafft! Ich war draußen! Doch als ich fliehen wollte, um mir irgendwo in den endlosen Wiesen ein sicheres Versteck zu suchen, spürte ich, dass es zu spät war. Zu viel Gift, zu viele Stichwunden. Die Kraft rann aus meinem pulsierenden Leib wie Honig aus einer geknickten Blüte. Schon waren die anderen wieder über mir. Gnädigerweise stachen sie nicht weiter auf mich ein, vielleicht wollten sie auch nur ihr Gift nicht mehr an einem sterbenden Unschuldigen verschwenden. Trugbilder waberten vor meinen Augen. Gab es wirklich nur eine Sonne, oder waren es mehrere? Und war es nicht gleichgültig, wenn ich ohnehin keine von ihnen mehr erblicken würde? Hätte ich nur mein Propolis genommen! Ich spürte, wie man mich zog und schob, als wollte man mich irgendwohin bugsieren. In meinem Delirium hätte ich ihnen beinahe signalisiert, dass ich ihnen doch helfen könnte. Aber meine Hilfe war hier nicht mehr vonnöten. Nie mehr.

 

 

 

Mit Schwung fiel ich von der Kante des Ausflugloches. Die Sonne - oder die Sonnen, ich vermochte es nicht mehr zu sagen - drehte sich vor meinen Augen, als ich in die Tiefe stürzte. Unten, zu Füßen des Bienenstockes gelandet, sah ich mich in meiner Agonie um und entdeckte zahllose weitere Drohnen. Manche summten noch kläglich protestierend mit den Flügeln, andere strampelten lahm mit ihren Beinen, als wollten sie in der Luft laufen, einem unbekannten, rettenden Ziel entgegen. Wieder andere lagen bereits still da, die Beine gekreuzt. Sie hatten es hinter sich und ich beneidete sie sehr darum. Sie mussten nicht mehr leiden und, weit wichtiger, sie mussten ihr sterbendes Hirn nicht mehr mit der Frage nach dem Warum martern. Weit oben, im nun unerreichbaren Himmel, flogen die Arbeiterinnen mit ihren Giftstacheln zum Honigsammeln, als sei nie etwas gewesen und ich wollte ihnen in meiner Wut Mörderinnen hinterherschleudern. Aber ich konnte mich nicht mehr rühren. Warum nur, warum? Erst jetzt wurde mir mit aller unbarmherzigen Wucht klar, dass es das war, was mein ungutes Gefühl hatte ausdrücken wollen: Dass ich mit diesem Wort im Mund sterben würde. Warum?

 

 

 

Das Licht verließ mich.