Charaktere aus "Colerianischer Herbst"

Victor Nadar

 

 

Der feine Unterschied

 

 

 

 

Manche Charaktere wirken auf ihre ganz besondere Weise sympathisch, wenn nicht gar attraktiv, weil man ihre chaotische Art mit Unangepasstheit verwechseln kann. Je restriktiver und formeller eine Umgebung ist, desto reizvoller wirkt gelegentlich eine Person, wenn sie damit nicht klarkommt, insbesondere, wenn man sich diesem Konflikt nur als Zuschauer widmen muss, ohne die Komfortzone der eigenen Angepasstheit verlassen zu müssen. Oder können. Victor Nadar ist so ein Fall. Dabei besteht er gar nicht auf diese Rolle als chaotischer Außenseiter, im Gegenteil: Wie ein moderner König Sisyphos versucht er stets aufs Neue, mit seiner Umwelt klarzukommen, mit demselben Ergebnis wie sein berühmter Ahn: Er kann bald wieder von vorn anfangen, manchmal sogar von weiter unten als je zuvor.

 

Dabei ließ sich alles gut an für Victor, denn seine Talente waren und sind unbestritten. Genügsamkeit, Charme und gutes Aussehen, gemischt mit einer beinahe schon zu optimistischen Art und verträumt-idealistischer Ethik sind Bausteine, die einem Reporter so manche Tür öffnen, die seinen gesetzteren Kollegen verschlossen bleibt – Aber eben auch die Bausteine, aus denen sich ein großartiger Trümmerhaufen errichten lässt, der außer einer morbiden Faszination und dem Parfum unbezahlter Rechnungen wenig zu bieten hat. So wie bei Victor „Vic“ Nadar. Wie so manchem Reporter seiner Generation schwebte auch ihm vor, unabhängig zu bleiben und sich nicht von den staatlich favorisierten Medien kaufen, respektive betäuben zu lassen. Allerdings waren nur wenige seiner Kollegen ebenso konsequent wie er darin, ebendiesen Medien die Tür vor der Nase zuzuknallen - oder besser: Von ihnen die Tür vor der Nase zugeknallt zu bekommen. Sein ehemaliger Arbeitgeber, der Tynera Newsletter, gehört ebenso in diese Kategorie wie der Nachrichtensender Colerian News Landscape CNL. Was Victor bleibt, ist der Untergrund. Die Piratensender der Slums, die Flugblätter, die von den Unterprivilegierten nur unter dem Ladentisch gehandelt werden, die Infoseiten im Holonetz, die von den Behörden wegen uncolerianischer Agitation schneller geschlossen werden, als sie Spenden der Nutzer sammeln können. Dinge, die einem unabhängigen Reporter einen gewissen Ruf in gewissen Kreisen einbringen, aber wenig zu dessen Einkommen betragen. So verbringt Victor seine Tage in algarasischen Teehäusern, auf den Straßen der Slums und in seiner heruntergekommenen Bürowohnung, zynisch-scherzhaft von ihm als Agentur der offenen Rechnungen bezeichnet. Dort wahrt er, zusammen mit seiner unter- bis gar nicht bezahlten Sekretärin und Lebensbewältigungsassistentin Marjolaine, den Schein eines beschäftigten Reporters, der immer auf der Suche nach der Story seines Lebens ist – bis ihm das Foto einer hübschen, rothaarigen Marinepilotin in die Hände fällt…

 

 


Kommentar schreiben

Kommentare: 0