Colerianischer Adventskalender

05.12.2020

 Die Thunderwing warf einen langen Schlagschatten nach links, als sie die alte Küstenstraße verließ und mit einer grell aufleuchtenden Nachbrennerflamme in Richtung Süden auf die Straße zweiter Ordnung einbog. Von Westen her zog die Dämmerung auf. In Conoret City war es vermutlich bereits so dunkel, dass die hübschen Leuchten im Capmallin-Park einschalteten und ihr düster-romantisches Lichterspiel mit den herbstkahlen Ästen der Bäume trieben. In Richtung Meer jedoch, jenseits der langen, schwarz glänzenden Schnauze des Gravbikes, war noch heller Himmel, der sich weigerte, dem Beispiel zu folgen. Rafale befuhr jetzt die Straße ihrer Kindheit, von den Einheimischen wegen ihrer landschaftlichen Reize Seufzerbahn genannt. Nüchtern betrachtet war es die einzige größere Straße auf der Le Ganet-Landzunge. Wie ein mit einem überdimensionalen Stift gezogener Strich zog sie sich mittig entlang des dünnen Streifens Land, der sich so vorwitzig einige Kilometer weit ins Meer vorgewagt hatte, als wollte er auch mal baden.
Zügig fuhr sie, aber nicht übermäßig schnell. Es würde noch eine gute Stunde dauern, bis es wirklich dunkel wurde. Das Tempo war ausreichend, den vielen Fragen, Sorgen und Dramen in ihrem geplagten Kopf für einen Moment davonfahren zu können. Pfützen peitschten gischtend auf, herbstbuntes Laub wirbelte unter dem unsichtbaren Besen der Abgase aus den drei Orcaine-Turbinen. Es tat ihr gut, den Wind im Gesicht zu spüren. Wie er neugierig versuchte, unter ihre Pilotenbrille zu kriechen und an ihrer Kleidung zu zerren, weil der Kraftfeld-Windschild gänzlich heruntergefahren war. Sie liebte das Spiel der Elemente. Im Gegensatz zu den Spielen ihrer Spezies hatte sie bei Wind, Wellen und Sonne immer das Gefühl von Ehrlichkeit, wenn auch unberechenbarer Art.


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