Colerianischer Adventskalender

08.12.2020

Sie bogen von der Hauptröhre in eine kleinere Querröhre. Auch hier war es unvermindert sommerlich-hell, nur der Verkehr war spärlicher. Trotzdem gebot ein holografisches Verkehrszeichen, langsam zu fahren. Rafale hielt sich daran.
»Ich hatte wirklich keine Ahnung, dass Caro hier wohnt. Wohnte«, verbesserte sie sich. »Sie hat immer nur gesagt, dass sie im westlichen Conoret lebt.«
»Wer weiß schon wirklich, was andere Leute so treiben. Wie sie leben, denken, lieben und sterben. Man lernt Menschen meistens erst so richtig kennen, wenn sie tot sind.«
»Warum ist das so?«, fragte sie nach, den Blick starr auf die Fahrbahn gerichtet, das Steuer fest umklammernd.
»Weil sie sich dann nicht mehr wehren können.«
Eine unangenehme Pause entstand, in der man sogar den Antrieb summen hören konnte. Als hätte Nour verstanden, dass er es war, der die Lethargie brechen musste, fuhr er fort. »Kennenlernen bedeutet auch immer Ausziehen. Und wer läuft schon gerne nackt herum? Bei uns sagt man, dass Menschen nicht nur eine Totenmaske haben, sondern auch eine Lebensmaske. Erst im Tod legen die meisten die eine ab und tauschen sie gegen die andere. In diesem kurzen Moment sehen wir das wahre Gesicht.«
»Sie hätten Philosoph werden sollen, Nour.«
»Philosophen sind noch schlechter bezahlt als Kadetten, mon Lieutenant.«


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