Colerianischer Adventskalender

11.12.2020

 Der Seevogel kreiste hoch über den weiß brandenden Wellen, die sich am Platinstrand brachen, wie sie es seit Urzeiten taten. Endlich, nach Tagen, war der Himmel so weit aufgerissen, dass die strahlend türkisblauen Wolkenlöcher die Seevögel in größere Höhen lockten. Dennoch: Es war Herbst und bald, sehr bald, würde der Winter kommen. Es lag für alle Lebewesen Colerias einfach in der Luft. Aber im Gegensatz zu anderen Vögeln zogen die Seevögel nicht ins wärmere Landesinnere. Hier am Strand, an der Grenze zwischen Himmel, Meer und Land, war es das ganze Jahr über angenehm. Und das bedeutete auch Nahrung im Überfluss. Ständig spülte das mächtige Meer kleinere Fische, Muscheln und unvorsichtige Krabben an Land. Leichte Beute für alle, die blieben. Und Anfang des Winters kam dann auch noch die Paarungszeit der Kalmare. Uralte Instinkte sagten den Vögeln, dass die Kalmare in Scharen vor der Bucht zu finden sein würden, wenn man nur genügend hoch steigen könnte, um sie zu entdecken. Die beste Zeit, um Junge großzuziehen. Die beste Zeit überhaupt. Und nicht nur die Seevögel genossen sie. Für manche alteingesessene Bewohner des Platinstrandes, jener bemerkenswerten Naturschönheit an der Küste zwischen Conoret City und Tynera, war es eine Zeit der Einkehr, der stillen und ungestörten Harmonie mit der Natur. Für Außenstehende mochte es wie ein trüber Winterschlaf aussehen, für die Eingeweihten war es das eigentliche Leben. Ohne den Lärm, ohne den pulsierenden Trubel der Touristensaison, war es fast gespenstisch still, vom Rauschen der Brandung und des Windes in den Küstenwäldern abgesehen.

Pensionäre der staatlichen Verwaltung, Offiziere im Ruhestand und die stolzen Nachfahren der Fischer von einst saßen auf den Veranden ihrer Ferienhäuser und tranken heißen Tee oder schauten den nimmermüden Wellen zu. Seit die alte Küstenstraße ihre einstige Bedeutung zugunsten des neuen Skyways S51 verloren hatte, war auch der Verkehr in eine Art Winterschlaf gefallen. Hier am Boden, entlang der Küste, schoben sich nur noch vereinzelte Gleiterschlitten entlang, die sich zwischen den zahlreichen kleinen Siedlungen bewegten. Heute jedoch erregte ein einzelnes Fahrzeug die Aufmerksamkeit so mancher Augen und sorgte für gehobene Brauen und den einen oder anderen unterbrochenen Schluck Tee.

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