Colerianischer Adventskalender

18.12.2020

Mit einer Hand hielt sie sich an einem Auf die Felsen klettern verboten-Schild fest, um sich dann leidlich elegant auf die nächsttiefere Ebene zu schwingen, dem großen Meer am nächsten. Hier unten spritzten schon kleine Gischttropfen zu ihr empor, wie um eine alte, zurückgekehrte Freundin zu begrüßen.
»´n Abend Sly«, rief sie gegen das Rauschen an, als sie den alten Angler direkt am Wasser entdeckt hatte. Er war wirklich noch da!
»Hoi, kleine Rafja!«, gab dieser zurück, ohne den Blick von seiner Pose zu lösen. »Na, haste wieder was angestellt?«
Sly - und sie kannte ihn nur unter diesem Namen - war ein echtes Relikt des Platinstrandes. Er schien schon immer dagewesen zu sein. Oft hatte sie bei fröhlichen Gelagen am Strand behauptet, man hätte Le Ganet einfach um ihn herumgebaut. Ob er mal etwas anderes getan hatte als seit Jahr und Tag seine Magnet-O-Rod-Angelrute ins Meer zu hängen, wusste Rafale nicht. Sie kannte ihn nur so. Vielleicht war er auch einfach auf diesem Felsen festgewachsen, wie die launische Karikatur einer Meerjungfrau. Wenn er einen Job hatte, ein Heim, Frau und Kinder, dann sprach er nie darüber. Die Kinder jedenfalls liebten den kauzigen, aber freundlichen Mann ohne Jugend und ohne Alter. Auch Rafale hatte als junges Mädchen oft bei ihm gesessen und seine nicht enden wollenden Geschichten vom Meer angehört, von denen sie immer nur die Hälfte glaubte, sie aber immer sehr ernst nahm.
Rafale schaute ihn an und konnte sich ein freundliches Schmunzeln nicht verkneifen. Er mochte jetzt gut über siebzig sein, und sein schäbiger alter Anglerhut, der stets seine Halbglatze bedeckte, nicht minder. Und er sprach auch wie immer, selbst wenn die kleine Rafja ihn nun schon um mehr als anderthalb Köpfe überragte. Ihr gefiel einfach das Gefühl, dass Sly unsterblich sein könnte und alles in seiner Umgebung unveränderlich blieb. Es machte die selbst erlebte Vergänglichkeit erträglicher.

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